Öfter mal ans Gehirn denken

Wir brauchen mehr Respekt davor, wie andere Menschen ticken, sagt Friederike Fabritius.

Im Interview erklärt die Hirnforscherin, warum es durchaus hilfreich sein kann, sich auch im

Unternehmensalltag mit einigen Funktionsweisen unseres Gehirns auseinandersetzen.

Frau Fabritius, es gibt viele Bücher zu Neurowissenschaften und viele Bücher zu

Mitarbeiterführung. Sie haben in Ihrem Buch, das zunächst in englischer Sprache

erschienen ist, beides miteinander verbunden. Wie kam es zu dieser Verknüpfung?

FRIEDERIKE FABRITIUS Als ich beim Max-Planck-Institut in der Hirnforschung tätig war

war, stellte ich fest, dass sich niemand für die praktische Anwendung unserer Arbeit

interessiert hat. Wir waren den ganzen Tag im Labor, und selbst wenn ich mit führenden

Hirnforschern darüber gesprochen habe, was wir nun daraus in die Realität übertragen

können, in das Leben der Menschen dadraussen, bin ich oft auf Unverständnis gestossen.

Dann war ich bei McKinsey in der Unternehmensberatung. Da war es umgekehrt:

Es ging immer nur um die Praxis, und keiner hat sich für die Hirnforschung interessiert,

die Klarheit darüber bringen könnte, ob die Menschen sich wirklich so verhalten,

wie wir das jetzt gerade annehmen. Aus diesen Erfahrungen entstand der

großer Wunsch, die beiden Welten zu verbinden. Ich glaube, dass die Wissenschaft

ein bisschen mehr Praxisbezug verkraften könnte und man im Management ganz viele

Dinge aus der Hirnforschung verwenden kann, die noch gar nicht genutzt werden.

Dass ich damit nicht so falsch lag, zeigte der erste Workshop für Führungskräfte, den ich

mit einem solchen Konzept durchgeführt hat. Skeptiker fragen erst: "Was sollen wir

mit Hirnforschung?" - ein absurder Gedanke sei das. Doch der Workshop war ein Riesenerfolg,

mit dem Feedback der Teilnehmer, sie hätten jetzt einen ganz anderen Blick

auf die Menschen in ihrem Unternehmen.

Arbeiten wir in der Regel zu sehr gegen unser Gehirn?

FABRITIUS Viele Dinge, die im Leben passieren, in der Politik, in der Gesellschaft,

in der Familie, im Unternehmen, können wir auf die Funktionsweisen unseres Gehirns

zurückführen und darauf, dass Menschen unterschiedlich ticken. Wenn wir beispielsweise

ein gewisses Verständnis über die Neurotransmitter, die Botenstoffe, im

Gehirn haben, dann können wir diese bis zu einem ge wussten Punkt steuern und damit

auch unser Verhalten. Es ist hilfreich, auch in der Arbeitswelt öfter mal an unser

Gehirn zu denken.

Auch psychologische Aspekte dringen in die Unternehmenswelten vor. Wo liegt

der Unterschied in den Betrachtungen?

FABRITIUS Die klassische Psychologie beobachtet den Menschen und sein Verhalten

und versucht, menschliches Verhalten vorherzusagen. Eine Erkenntnis aus

Versuchsanordnungen beispielsweise ist: Wenn Menschen gestresst sind, sind sie

weniger einfühlsam. Die Hirnforschung geht noch einen Schritt weiter, weil sie das

Warum erklärt. Wenn ich auch herausgefunden habe, dass Menschen unter Stress

weniger empathisch sind, gibt die Neurowissenschaft den Aufschluss darüber, dass

Das Stresshormon Cortisol hemmt den Neurotransmitter Oxytocin. Oxytocin spielt

eine ganz wichtige Rolle in unseren sozialen Beziehungen. Es beeinflusst die Bindung,

Vertrauen und damit eben auch die Zusammenarbeit.

Ihr Buch ist nicht wissenschaftlich geschrieben,

sondern sehr unterhaltsam, und es enthält viele Tipps, die auch Laien

verstehen und anwenden können, zum Beispiel, wie die Neurowissenschaft

helfen kann, die eigene Leistung zu verbessern.

FABRITIUS Dabei kommt es auf den Mix aus drei Botenstoffen an: Dopamin, Noradrenalin

und Acetylcholin. Das Fun-Fear-Focus-Modell, wie ich es nenne, beschreibt,

wie wir in die optimale Leistungsfähigkeit kommen. Wenn wir Freude haben, wird

Dopamin ausgeschüttet. Wenn wir das richtige Maß an Stress, auch Furcht, haben,

wird Noradrenalin ausgeschüttet, und wenn wir das richtige Niveau an Fokus erreichen,

wird Acetylcholin ausgeschüttet. Für Unternehmen heißt das: Menschen

brauchen Freude an der Arbeit. Das ist fürdie Leistungsfähigkeit essenziell. Dopamin

ist ein Brain-Booster, ein Turbo, der unser Gehirn leistungsfähiger macht. Wir werden

kreativer, wir können besser denken, werden mental flexibler und können sogar bis zu

zu 500 Prozent schneller lernen. Dopamin bringt uns in eine positive Grundstimmung.

Wer schlecht gelaunt oder gestresst ist, kann keine optimale Leistung erbringen. Die

zweite Komponente im Botenstoffcocktail ist das Noradrenalin, das den Stresspegel

steuert. Der optimale Stresspunkt liegt in einem Zustand leichter Überforderung. Das

ist der Tipping Point für unser Gehirn. Die dritte Komponente ist der Fokus. Wenn

Wir sind fokussiert, schüttet das Gehirn Acetylcholin aus, ein Botenstoff, der hilft, gezielte

Aufmerksamkeit zu fixieren und uns zu konzentrieren. Daraus kann, wenn andere

Botenstoffe kommen dazu, der sogenannte Flow entsteht. Wer wirklich Höchstleistung

bringen will, dem wird empfohlen, sich auf eine Sache zu konzentrieren und

kein Multitasking zu machen. Es geht natürlich nicht darum, dauerhaft in diesem

Zustand zu bleiben, aber für diese Momente, wo es drauf ankommt, ist es gut, wenn

man diesen Cocktail abrufen kann.

Wie bewerten Sie die Diversitätsdebatte?

aus neurowissenschaftlicher Sicht?

FABRITIUS Ich bin überzeugt, dass wir zukünftig ein erweitertes Verständnis vonDiversity haben werden.

Derzeit ist die Diskussion eher auf Geschlecht, Alter, Herkunft, Handicap gerichtet. Was uns noch

fehlt, ist die Betrachtung, was eigentlich im Gehirn der Menschen passiert. Daher

habe ich den Begriff der Neurosignatur-Diversität geprägt.

Was bedeutet das für die Mitarbeiterführung?

FABRITIUS Führungskräfte sollten beispielsweise

verstehen, dass jeder Mensch sein individuelles Leistungsoptimum auf einem

anderen Stresslevel erreicht. Ich spreche dabei von Neurosignaturen. Manche Gehirne

brauchen mehr Abwechslung, andere mehr Routine. Es gibt zum Beispiel Menschen,

die immer wieder etwas Neues entdecken wollen, die immer auf der Suche sind

sind. Ich nenne sie Sensation Seeker. Diese Menschen haben ein sehr aktives Dopaminsystem

und verkraften von ihrer Disposition her viel mehr Stress als andere. Mehr

noch, sie brauchen es geradezu. Wenn man ihnen den Stress wegnimmt, werden sie unglücklich.

Andere Menschen erreichen ihr Leistungsoptimum auf einem niedrigeren Niveau.

Stressniveau. Viele Führungskräfte denken, dass die Sensation Seeker, die Workaholics,

die Leistungsträger des Unternehmens sind, als Erfinder, Entdecker, Entrepreneure. Das

ist ein Irrtum. Was ist zum Beispiel mit den Forschern, die sich jahrelang auf ein einziges Projekt konzentriert haben?

Thema fokussieren und dann eine bahnbrechende Entdeckung machen? Führungskräfte

und auch Personaler sollten die Diversität in der Denkweise unserer Gehirne

schätzen lernen. Das sehe ich in der Diversitätsdebatte noch nicht.

Was wird Zukunftsteams erfolgreich machen?

FABRITIUS Unser Gehirn arbeitet am liebsten mit Menschen zusammen, die uns

ähnlich sind. Das läuft dem Diversitätsansatz zwar zuwider, wir können aber mit

dieser Kenntnis mit mehr Respekt und Toleranz auf andere zugehen. Teams, die divers sind,

stärkenorientiert und komplementär zusammengesetzt sind, werden sicher in

Zukunft die Nase vorn haben. Vorausgesetzt, es gibt eine Kultur, die abweichende

Meinungen auch zulässt. Unternehmen könnten viel mehr Innovation generieren,

wenn es nicht trotz aller Diversität einen gewissen Gruppendruck gäbe.

Wie sehr ist unser Verhalten auf unbewusste Vorgänge in unserem

Gehirn zurückzuführen?

FABRITIUS Wichtig sind hier zunächst einmal die Basalganglien. In diesen Gehirnarealen

sind unsere Gewohnheiten und Erfahrungen abgespeichert. Im Unternehmenskontext

ist das in vielerlei Hinsicht relevant. Druck und Angst führen dazu, dass der rationale Bereich in unserem

Gehirn, der präfrontale Cortex, nicht mehr richtig funktioniert. Das führt dazu, dass

Menschen in dieser Situation handeln automatisch und denken nicht mehr darüber nach.

Dann wird oft sichtbar, was sie in ihren Basalganglien abgespeichert haben. Ein

weiterer Aspekt des Unterbewusstseins sind die Bereiche der Intuition und der Kreativität.

Experten kommen zu besseren Entscheidungen,

wenn sie diese schnell und intuitiv treffen. Es gibt im Gehirn Schaltkreise,

wie zum Beispiel die Insula, die Input aus dem Körper verarbeiten. So entsteht auch das

sogenannte Bauchgefühl. Menschen, die eine gute Körperwahrnehmung

haben, haben oft auch eine bessere Intuition. Es gibt viele Faktoren, die die Funktion unseres

Gehirne unbewusst beeinflussen. Dazu gehören auch Körperhaltung und Mimik. Auch wenn wir lächeln,

passiert etwas in unserem Gehirn.

Die Arbeitswelt wird immer komplexer und wandelt sich

sich rasant. Wie reagiert unser Gehirn darauf?

FABRITIUS Gravierende Veränderungen sind Stress für unser Gehirn. Was unser Gehirn bei der

Umstellung hilft, ist das Gefühl, Herr der Lage zu sein, steuern zu können, was mit uns geschieht.

Erfolgreich werden die Unternehmen sein, die ihren Mitarbeitern mehr Autonomie zugestehen. Wenn wir

Neues lernen und Altes verlernen sollen, ist unser Gehirn zudem in

verschiedenen Arealen aktiv. Die Lernareale sind im limbischen System angesiedelt, auch dort, wo

Emotionen werden verarbeitet. Wer den Mitarbeitern vermitteln kann, warum sie etwas lernen sollen, und

diese Freude daran finden, werden sie dies mit Leichtigkeit schaffen.

Nicht zuletzt durch die vermehrte Arbeit im Homeoffice ist vielen Menschen klar geworden, was sie

wirklich wollen - und dass sie sich vorher oft nicht wohlgefühlt haben. Unternehmen, mit denen ich in

Kontakt bin, rechnen Sie daher mit einer großen Kündigungswelle. Um das zu verhindern, sollten sie den

Menschen geben jetzt die Chance, gehirngerechter zu arbeiten.

Wie kann gehirngerechtes Arbeiten aussehen?

FABRITIUS Ich gehe davon aus, dass Menschen zukünftig grösseren Wert auf Dinge legen werden wie

Sport, Schlaf, gute Ernährung - Grundlagen, die unser Gehirn braucht, um zukünftige Herausforderungen zu meistern

gewachsen zu sein. Wir wissen das eigentlich alle, aber noch zu wenige Unternehmen fördern das. Es

muss mehr Freiheiten in verschiedenen Richtungen geben. Nicht nur, weil man nett sein will, sondern weil

es die Freude an der Arbeit und damit die Leistungsfähigkeit steigert. Eine Reduktion der Arbeitszeit und

das Fokussieren auf wirklich Wichtiges, auch auf Ergebnisse, wäre gut für unser Gehirn.

Frau Fabritius, vielen Dank für das Gespräch! -

Das Gespräch führte Sabine Schritt. Personalführung 12/2021/2022