Mit Fun und Fokus gegen die Fluktuation

Dreizehn Uhr, Mittagspausenzeit bei SAP. In der Konzernzentrale in Walldorf pilgern die meisten der rund 12.000 Mitarbeiter nun in eine der sieben Kantinen und Betriebsrestaurants, in denen es für alle auf Firmenkosten gesundes Essen gibt. Wem das zu langweilig ist, der läuft ein, zwei Kilometer weiter in die neu eingerichtete »Food Hall«, eine ehemalige Lagerhalle, in der wechselnde Imbisswagen Streetfood anbieten. Alternativ ist auch ein vom Achtsamkeits-Coach begleiteter »Silent Lunch« im Angebot ebenso wie ein Ausflug ins firmeneigene Meditationszimmer, ins SAP-Fitnessstudio, auf den Tennisplatz, in die Sauna oder zum »Dance-Move-Treff« mit tanzbegeisterten Kollegen. Der mobile Hundeservice holt die Bürohunde derweil zum Gassigehen ab.

In Techkonzernen wie SAP hat man bisweilen den Eindruck, dass sie ein regelrechtes Entertainmentprogramm für ihre Mitarbeiter auffahren: Hauptsache, es kommt keine Langeweile auf, damit sich IT-Fachkräfte und andere Leistungsträger nicht anders wo nach einem spannenderen Job umschauen.

Tatsächlich sprechen Personaler bei Unternehmen wie SAP nicht mehr vom Human-Resource-Management –, die Perspektive auf die Mitarbeiter hat sich in Zeiten von New Work und Fachkräftemangel verändert. Nun geht es weniger um den effizientesten Einsatz der Ressource Humankapital als vielmehr um die ganzheitliche »Employee Experience« am Arbeitsplatz, die optimiert werden soll. Die Personalabteilung sieht sich als interner Dienstleister, der alle Bedürfnisse der Kollegen am Arbeitsplatz und rundherum erfüllt, erklärt Cawa Younosi, Personalleiter für SAP Deutschland. »Mitarbeiter bleiben bei uns, solange sie für sich persönlich und fachlich Entwicklungsmöglichkeiten sehen, sich wohlfühlen und das Gefühl haben, gesehen zu werden.« Was nötig ist, damit Mitarbeiter sich auf diese Weise ans Unternehmen gebunden fühlen, sei individuell sehr verschieden. Insofern: »Wenn es jemanden glücklich macht, in der Mittagspause zu tanzen, dann soll er gerne tanzen.« Younosis Team macht’s möglich.

Hinter dem Trend zu solchen Rundum-Wohlfühl-Paketen steckt die Erkenntnis, dass unzufriedene Mitarbeiter Unternehmen teuer zu stehen kommen. Studien zeigen: Im Schnitt 16 Prozent der deutschen Arbeitnehmer sind in ihrem Job unglücklich. Sie haben innerlich bereits gekündigt und würden jederzeit zu einem anderen Arbeitgeber wechseln. Weitere 69 Prozent machen im Grunde nur noch Dienst nach Vorschrift. Sie können sich nicht mehr für ihren Job begeistern.

Gerade einmal 15 Prozent der Arbeitnehmer gelten als emotional stark an ihr Unternehmen gebunden und sind mit vollem Engagement leidenschaftlich gerne bei der Arbeit. Die Gallup- Forscher schätzen den volkswirtschaftlichen Schaden, der durch die flächendeckend schlechte Laune in deutschen Büros und Werkshallen entsteht, auf bis zu 122 Milliarden Euro jährlich. 

Aber wie kann es gelingen, Mitarbeiter dauerhaft zu motivieren und zu loyalen Leistungsträgern zu machen? Die Neuropsychologin Friederike Fabritius berät Unternehmen bei dieser Aufgabe. Aus der Hirnforschung leitet sie drei Faktoren ab, die eine optimale Arbeitsumgebung bieten muss, um Mitarbeiter langfristig zu halten und zu motivieren: »Fun, Fear and Focus.« Erste Erkenntnis: Spaß muss sein. Nur wenn Menschen Freude an ihrer Arbeit haben, werde im Gehirn der Neurotransmitter Dopamin ausgeschüttet. »Der sorgt dafür, dass Informationen besser und schneller verarbeitet werden, macht innovativ und lern fähig«, erklärt Fabritius. 

Ein bisschen stressig sollte es im Job aber schon zugehen: »Wir bringen Höchstleistungen dann, wenn wir uns immer wie-der neue Aufgaben und Situationen suchen, die uns leicht über-fordern«, sagt Fabritius zur Rolle des »Fear«-Faktors. Positive Stresshormone helfen dabei. Wer seine Arbeit als Routinetätigkeit empfindet und auch bei wichtigen Aufgaben keine leichte Angst oder Nervosität verspürt, sollte also aus seiner Komfortzone herauskommen und etwas Neues ausprobieren können, sonst schwindet die Motivation früher oder später. 

Unter dem dritten Schlagwort »Focus« versteht die Neurowissenschaftlerin die Fähigkeit, bei der Arbeit in einen konzentrierten »Flow«-Zustand zu kommen. »Die Gelegenheit zu wirklich ungestörtem, konzentrierten Arbeiten bekommen viele Mitarbeiter nur noch sehr selten, weil ihr Arbeitsalltag von Multi-tasking und ständigen Unterbrechungen geprägt ist.« So habe das Gehirn einerseits keine Gelegenheit, wirklich effizient und produktiv Leistung zu erbringen – und andererseits ebenso wenig die Chance, sich zwischen Hochleistungsphasen ausreichend zu erholen. »Regelmäßige Pausen und körperliche Bewegung sind wichtig, um Stress abzubauen und den Kopf wieder frei zu bekommen für die eigentliche Arbeit.«

Durch die Brille der Neurowissenschaften betrachtet sorgt SAP vor allem für »Fun« und »Focus« – mit Investitionen in das umfangreiche Pausenprogramm, Entlastung von privaten Stressfaktoren und Entertainmentaktivitäten wie dem Mittagspausentanz. Aber wie steht es um den Faktor »Fear«, also die immer wieder neue Herausforderung im Job, die für den nötigen Thrill sorgt? 

Gerade in großen Konzernen fühlen sich ausgerechnet die besonders motivierten und kompetenten Leistungsträger schnell eingeengt und in starren Konzernhierarchien und engen Jobprofilen gefangen. Zwar gibt es in Großunternehmen häufig professionelle Weiterbildungsangebote und »Talent-Manage-ment«-Programme, die zumindest angehenden Führungskräften bei der persönlichen Weiterentwicklung helfen sollen. Doch aus den vorgesehenen Karriere pfaden ganz auszubrechen, sich an wirklich neuen Aufgaben zu versuchen –, das ist in vielen Konzernen auch heute noch nur schwer umsetzbar. 

Kleinere Unternehmen hingegen können sich so umfang-reiche Rundum-Wohlfühl-Pakete in den seltensten Fällen leisten. Eine tolle »Employee-Experience«, die Mitarbeiter langfristig ans Unternehmen bindet und motiviert, können Startups und Mittelständler dennoch bieten. Davon ist Caterine Schwierz von der Karriereberatung Rundstedt überzeugt: »Es braucht dazu kein Betüddeln und keine extravaganten Verwöhnprogramme. Auch Geld allein ist nicht der entscheidende Faktor«, sagt die Expertin für moderne Karrierewege. »Entscheidend ist am Ende gute Führung, die Mitarbeiter ernst nimmt und sie dabei unterstützt, sich persönlich weiterzuentwickeln.« Hier können Startups, kleine und mittelgroße Unternehmen gegenüber Konzernen durchaus punkten. 

VERHINDERN, DASS KONZERNE DIE BESTEN MITARBEITER WEGSCHNAPPEN 

Zu dieser Erkenntnis ist auch Niklas Jansen gekommen. Der Gründer und Geschäftsführer des Startups Blinkist hat sich zum Ziel gesetzt, für jeden einzelnen Mitarbeiter im Unternehmen genau die »Ziele und Themen zu finden, die ihn oder sie richtig packen und motivieren«. Das Berliner Unternehmen ist mit der Idee, Sachbücher in kurzen Text- und Hörbeiträgen zusammenzufassen und per App anzubieten, in den vergangenen Jahren in großen Sprüngen auf 160 Mitarbeiter gewachsen. »Wir hatten von Anfang an das Ziel, ein richtig cooles Arbeitsumfeld für alle Mitarbeiter zu schaffen«, sagt Jansen. In der ersten Wachstumsphase stand dieses Ziel dann aber doch immer wieder hintenan: »Klar, da guckt man erst mal aufs Produkt und aufs Marketing, gibt alles, um in diesen Bereichen besser zu werden.« Die Folgen: Obwohl das Geschäft gut lief, gab es immer häufiger Unstimmigkeiten zwischen den Gründern, und auch immer mehr unzufriedene Mitarbeiter. 

Eine Falle, in die viele junge und schnell wachsende Unter-nehmen tappen: Feste Stellenbeschreibungen fehlen, jeden Tag warten neue Herausforderungen, kein Stein bleibt auf dem an-deren. Alle hängen sich voll rein, um das Unternehmen voran-zubringen. Das ist eine Zeit lang aufregend und motivierend, allerdings haben viele Mitarbeiter irgendwann das Gefühl, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse zu o! hintanstellen müssen. Dann ist der Anreiz groß, sich einen weniger turbulenten Job in einem etablierten Unternehmen zu suchen. 

Die Blinkist-Gründer steuerten gegen: »Wir haben begonnen, mehr Verantwortung an die Mitarbeiter zu geben und uns mehr auf die Themen Organisation und Kultur zu konzentrieren.« Vertrauensarbeitszeit, Homeoffice, eine eigene Kantine, Meditationssessions im Büro, Sportabos für die Mitarbeiter: Nach und nach passt Blinikst die Arbeitsumgebung an Wünsche und Bedürfnisse der Mitarbeiter an. „Das ist nur ein kleiner Teil des Pakets, mit dem man Mitarbeiter ans Unternehmen binden und sie wirklich langfristig motivieren kann.« Viel entscheidender sei die Unternehmenskultur: »Wirklich zufrieden sind unsere Mitarbeiter erst, seit wir das klare Ziel haben, dass wir uns alle gemeinsam weiter entwickeln wollen.«

So führen die Blinkist-Chefs mit ihren Mitarbeitern regel-mäßig persönliche Entwicklungsgespräche. »Wir fragen ganz konkret nach: ,Was willst du hier im Unternehmen machen, lernen, tun? Was begeistert dich jetzt, und was willst du in zehn Jahren machen, was dich mindestens genauso begeistert?‘« In solchen Gesprächen lasse sich herausfinden, wie man die langfristigen Ziele und Bedürfnisse der Mitarbeiter mit denjenigen des Unternehmens am besten zusammenbringen kann. »Wir wissen dann, wem wir welche Projekte und Wachstumschancen oder Weiterbildungen anbieten können und wie wir unsere Leute wirklich begeistern«, sagt Jansen. 

Mindestens genauso wichtig sei dabei, zu zeigen, dass die Geschäftsführung sich für ihre Mitarbeiter wirklich interessiere, ihre Ziele ernst nehme und ihren Einsatz wertschätze. Dieser Ansatz scheint gut zu funktionieren: In einem aktuellen Ranking schafft Blinkist es auf Platz 1 der Startups mit den zufriedensten Mitarbeitern. 

Das Beispiel zeigt: Wer sich ernsthaft um seine Mitarbeiter be-müht und ihre Wünsche ernst nimmt, kann sich Selbstbewusstsein gegenüber der Konkurrenz und auch gegenüber großen Konzernen durchaus leisten. Denn, Teil der Wahrheit im Wettbewerb um qualifizierte Mitarbeiter ist auch: Die Topkantine, das vergleichsweise hohe Gehalt, die umfangreichen Sozialleistungen oder der Zugang zum Firmenfitnessstudio mögen für manche ein Grund sein, dem Unternehmen trotz Lange weile im Job und fehlender Veränderungsperspektiven die Treue zu halten. Die »innere Kündigung« jedoch können Verwöhnprogramme allein langfristig nicht verhindern. Mitarbeiter empfinden die Zusatzleistungen im ungünstigsten Fall eher als eine Art Schmerzensgeld für das Aushalten eines ungeliebten Jobs. 

PER DATENANALYSE ERKENNEN, WER GEHEN WILL 

Für Personaler wie Younossi bei SAP besteht die größte Kunst des Employee-Engagements daher darin, Mitarbeitern immer neue interessante Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten. SAP-Mitar-beiter können sich zum Beispiel auf einem internen Stellenmarkt immer wieder für neue Jobs auch in anderen Abteilungen und an allen weltweiten Standorten bewerben. »Uns ist wichtig, dass wir sehr früh merken, wenn jemand unzufrieden ist oder unterfordert, und dass wir dann Angebote machen können, um das zu ändern«, sagt Younossi. 

Dazu setzt das SAP-Personalteam digitale Monitoring-Tools ein. Das Unternehmen führt zum Beispiel über spezielle Apps regelmäßig Echtzeitbefragungen zur Zufriedenheit der Mitarbeiter durch, wertet die Daten automatisiert aus und liefert den Führungskräften Hinweise, ob es an der Zeit ist, Mitarbeitern aktiv Weiterbildungen und Trainings oder einen internen Jobwechsel anzubieten, erklärt Younossi. »In kleineren Unternehmen ist es oft noch möglich, direkt im Austausch mit den Mitarbeitern zu bleiben.

Je größer ein Unternehmen ist, desto wichtiger sind auch digitale Tools, die bei diesem regelmäßigen Austausch unter-stützen.« Wenn SAP-Führungskräfte zum Beispiel per E-Mail oder im Intranet eine Veränderung im Unternehmen ankündigen, können Mitarbeiter diese mit einer integrierten Bewertungsfunktion direkt beurteilen: Ein Klick auf ein Bewertungstool mit ein fachen »Daumen-hoch-Daumen-runter«-Symbolen und einer Kommentarfunktion sorgt für direktes Feedback. Das Ziel: Handeln, schon bevor Mitarbeiter vom »Ich-brenne-für-meinen-Job«-Modus in den gelangweilten »Dienst-nach-Vorschri!«-Trott abrutschen. 

Manchmal reicht es dazu schon, die Konzernroutine für kurze Zeit hinter sich zu lassen. Die Lufthansa-Group bietet abenteuerlustigeren Mitarbeitern zum Beispiel mit dem sogenannten »Explorers«-Programm mehr Abwechslung und Inspiration für die persönliche Weiterentwicklung, ohne dass sie gleich den Job wechseln müssen. Sie dürfen sich im Rahmen des Programms abteilungsübergreifend in selbstgewählten Projekten kreativ austoben. 

Seit zwei Jahren können sie das nicht nur in anderen Abteilungen und Tochterfirmen des Konzerns, sondern auch in anderen Unternehmen tun. Über die Talent-Sharing-Plattform »TalentZ«, die von einem ehemaligen Lufthansa-Mitarbeiter gegründet wurde, können die »Explorer« etwa eine fünftägige Hospitanz bei Unternehmen machen, die ganz anders ticken als der Luftfahrtkonzern selbst: Zum Beispiel bei kleinen Tech-Startups oder bei IT-Unternehmen wie Microsoft, die auch bei der TalentZ-Platt-form registriert sind. Wer einmal ganz aus der Geschäftswelt und dem Karriereweg ausbrechen will, kann sich zeitweise für gemeinnützige Projekte im In- und Ausland schulen und freistellen lassen, die sogenannten „Impact Weeks«. 

Auch die gezielten Ausbrüche aus der gewohnten Routine seien ein wichtiges Puzzleteil im Employee-Engagement-Angebot, erklärt Martina Niemann, die als Personalchefin für den Airline-Bereich des Konzerns zuständig ist. »Ebenso wie unsere Weiterbildungsangebote stärken diese Perspektivwechsel die Bereitschaft und Fähigkeit zu lebenslangem Lernen.« Wenn Mitarbeiter dennoch kündigen und anderswo neue Herausforderungen suchen, stellt sich das Unternehmen allerdings niemandem in den Weg. 

Statt auf Biegen und Brechen die Kündigung zu verhindern, bemüht sich das Personalmanagement, den Kontakt etwa mithilfe eines Alumninetzwerks nicht abreißen zu lassen. »Kollegen, die den Konzern verlassen, neue Erfahrungen machen und dann wieder zurückkehren, bringen oft wertvolle neue Ideen und einen Blick von außen mit, die das Unternehmen bereichern.« Bevor ein Mitarbeiter gelangweilt und unzufrieden auf einem ungeliebten Arbeitsplatz hängen bleibt, kann es also für alle Beteiligten besser sein, ihn gehen zu lassen.